Eine kürzlich im Journal of the American Medical Association (JAMA. 306:1549-1556, 2011) veröffentlichte Arbeit des Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial (SELECT) kam zu dem Schluss, dass „eine Nahrungsergänzung mit Vitamin E das Risiko für Prostatakrebs bei gesunden Männern signifikant erhöht.“ Diese alarmierende Nachricht verbreitete sich schnell, und viele Männer fragen sich nun, ob es angesichts dieser neuen Informationen ratsam ist, Vitamin-E-Präparate einzunehmen.
Bislang wurden zwei große randomisierte, placebokontrollierte Studien (RCTs) an gesunden Männern durchgeführt, um die Wirkung einer Vitamin-E-Supplementierung auf Prostatakrebs zu untersuchen: Die Physicians‘ Health Study (PHS) II und SELECT. In PHS II (JAMA. 301:52-62, 2009) wurden 14 641 gesunde Männer im Alter von 50 Jahren und älter beobachtet, die acht Jahre lang jeden zweiten Tag 400 Internationale Einheiten (IE) synthetisches Vitamin E erhielten. In der SELECT-Studie erhielten 35 533 gesunde Männer im Alter von 50 Jahren und älter sieben Jahre lang jeden Tag 400 IE synthetisches Vitamin E. In beiden Studien zeigte sich kein Nutzen der Einnahme von Vitamin-E-Präparaten für das Prostatakrebsrisiko. In der SELECT-Studie wurde die Vitamin-E-Ergänzung nach durchschnittlich 5,5 Jahren abgesetzt, die Studienteilnehmer wurden jedoch noch 1,5 Jahre lang weiter beobachtet, um weitere Ereignisse zu dokumentieren. Unerwarteterweise ergab die kürzlich in der Fachzeitschrift JAMA veröffentlichte aktualisierte Analyse der SELECT-Studie, dass das Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, bei Männern, die das Vitamin-E-Präparat eingenommen hatten, um 17 % höher war als bei Männern, die ein Placebo erhalten hatten. Es wurde kein biologischer Mechanismus vorgeschlagen, um das erhöhte Auftreten von Prostatakrebs zu erklären.
Warum wurde Vitamin E überhaupt untersucht?
Vitamin E wirkt als starkes, fettlösliches Antioxidans in unseren Zellen und Geweben. Antioxidantien neutralisieren die Auswirkungen freier Radikale, hochreaktiver Spezies, die DNA, Proteine und Lipide in unseren Zellen oxidieren, was zu Schäden führen und zu Krankheiten beitragen kann. Insbesondere oxidative DNA-Schäden können Mutationen verursachen und somit das Risiko für bestimmte Krebsarten, einschließlich Prostatakrebs, erhöhen. Die Exposition gegenüber freien Radikalen ist ein unvermeidlicher Aspekt unseres Lebens, da diese Radikale als natürliches Nebenprodukt vieler biologischer Prozesse, wie z. B. der Zellatmung und Entzündungen, entstehen und auch aus unserer Umwelt, insbesondere aus dem Zigarettenrauch, stammen. Antioxidantien, die im Körper gebildet und mit der Nahrung aufgenommen werden, sind unerlässlich, um den oxidativen Stress zu verringern und den potenziell schädlichen Auswirkungen der freien Radikale entgegenzuwirken.
Einige Studien belegen eine positive Rolle von Vitamin E bei der Prävention von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In der Women’s Health Study (JAMA. 294:56-65, 2005) wurden beispielsweise 39.876 Frauen beobachtet, die zehn Jahre lang jeden zweiten Tag 600 IE natürliches Vitamin E einnahmen. Die Forscher fanden heraus, dass die zusätzliche Einnahme von Vitamin E die kardiovaskulär bedingten Todesfälle um 24 % verringerte, aber keine Auswirkungen auf kardiovaskuläre Ereignisse, die allgemeine Krebsinzidenz oder krebsbedingte Todesfälle hatte. Im Allgemeinen haben die Studien gemischte Ergebnisse erbracht, und die Auswirkungen einer Vitamin-E-Supplementierung auf das Risiko chronischer Krankheiten bleiben umstritten.
Warum sind die Ergebnisse unterschiedlich?
Die Women’s Health Study (WHS), PHS II und SELECT sind RCTs, die auch als klinische Studien oder Interventionsstudien bezeichnet werden. In RCTs werden Personen nach dem Zufallsprinzip entweder einer Behandlung (in diesem Fall Vitamin E) oder einem Placebo zugewiesen, und die Auswirkungen der Intervention auf das Auftreten von Krankheiten werden nach mehreren Jahren bewertet.
Die wichtigsten Fragen, die sich aus diesen RCTs ergeben, sind die Vitamin-E-Dosis (200-400 IE/Tag), die Vitamin-E-Form (natürliches vs. synthetisches Vitamin E) und die untersuchte Bevölkerung. Synthetisches Vitamin E (all-rac-alpha-Tocopherol oder dl-alpha-Tocopherol) hat nur die halbe Bioaktivität von natürlich vorkommendem Vitamin E (RRR-alpha-Tocopherol oder d-alpha-Tocopherol), weshalb die „wirksame Dosis“ in PHS II und SELECT nur 100 bzw. 200 IE/Tag und in WHS 300 IE/Tag betrug. Möglicherweise sind höhere Dosen erforderlich, um den oxidativen Stress wirksam zu reduzieren. In einer Dosis-Wirkungs-Studie wurde eine signifikante Verringerung der F2-Isoprostane im Plasma (ein Marker für oxidativen Stress) nur bei Tagesdosen von mindestens 1.600 IE Vitamin E aus natürlichen Quellen festgestellt. Diese Dosis liegt über der vom Food and Nutrition Board des Institute of Medicine festgelegten tolerierbaren Höchstmenge (UL) von 1.500 IE/Tag.
Die Tatsache, dass die in den RCTs verwendeten Vitamin-E-Dosen offenbar nicht ausreichen, um oxidativen Stress zu verringern, könnte den fehlenden Nutzen in Bezug auf das Krebsrisiko erklären. Es ist nach wie vor unbekannt, ob oxidativer Stress eine kausale Rolle bei Prostatakrebs spielt. Darüber hinaus bleibt ungeklärt, warum die Vitamin-E-Supplementierung in der SELECT-Studie mit einem um 17 % erhöhten Risiko für Prostatakrebs verbunden war, während die Vitamin-E-Supplementierung in der PHS II-Studie und der WHS-Studie nicht mit einem erhöhten Risiko für irgendeine Krebsart bei Männern bzw. Frauen verbunden war.
Schließlich handelte es sich bei der in der SELECT-Studie untersuchten Population um gesunde Männer, die sich ausgewogen ernährten und von denen die meisten wahrscheinlich keinen Vitamin-E-Mangel oder erhöhten oxidativen Stress hatten. Leider wurde weder der Ausgangswert des Vitamin-E-Spiegels im Blut der Studienteilnehmer noch ihr Status in Bezug auf oxidativen Stress ermittelt. In Stress-, Krankheits- oder Mangelsituationen kann die Deckung eines erhöhten Bedarfs durch eine Vitamin-E-Supplementierung gerechtfertigt sein. Bei gesunden Menschen zeigt eine Vitamin-E-Supplementierung jedoch keinen zusätzlichen Nutzen für das Krankheitsrisiko, wie die hier besprochenen RCTs bestätigen. So berichtete eine Studie über die Auswirkungen einer Vitamin-E-Supplementierung auf das Krebsrisiko bei 29 000 finnischen männlichen Rauchern (die Alpha-Tocopherol-Beta-Carotin-Studie) im Jahr 1998, dass eine tägliche Supplementierung von 75 IE/Tag synthetischem Vitamin E über einen Zeitraum von fünf bis acht Jahren mit einer 32%igen bzw. 41%igen Verringerung der Prostatakrebsdiagnose und -mortalität im Vergleich zu nicht supplementierten Rauchern verbunden war. Neben anderen Einschränkungen war die ATBC-Studie jedoch nicht darauf ausgelegt, die Prostatakrebsinzidenz als primären Endpunkt zu bewerten. Da oxidativer Stress bei den Studienteilnehmern nicht gemessen wurde, bleibt der Mechanismus für die mögliche Schutzwirkung von niedrig dosiertem Vitamin E unklar. Bei der Entstehung von Prostatakrebs spielen neben oxidativem Stress auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, wie z. B. körpereigene Hormone, Rasse, Alter und Fettaufnahme in der Nahrung.
Aufgrund des Mangels an schlüssigen Beweisen für den Nutzen einer Vitamin-E-Supplementierung bei der Vorbeugung von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei allgemein gesunden Erwachsenen und des Schadenspotenzials bei bestimmten Subpopulationen hat das Linus-Pauling-Institut sein „Rx for Health“ überarbeitet und empfiehlt nicht mehr die Supplementierung mit 200 IE/Tag Vitamin E aus natürlichen Quellen.
Was ist zu tun?
Vitamin E ist ein wichtiger Mikronährstoff, und die Einhaltung der täglichen Empfehlungen ist entscheidend für eine optimale Gesundheit. Die empfohlene Tagesdosis (Recommended Dietary Allowance, RDA) von Vitamin E für erwachsene Männer und Frauen beträgt 22,5 IE pro Tag. Bemerkenswert ist, dass mehr als 90 % der Menschen ab 2 Jahren in den USA den täglichen Bedarf an Vitamin E nicht allein aus Nahrungsquellen decken. Die wichtigsten Vitamin-E-Quellen in der amerikanischen Ernährung sind pflanzliche Öle, Nüsse, Vollkorngetreide und grünes Blattgemüse.
Unter Berücksichtigung aller oben erörterten Aspekte empfiehlt das LPI, dass allgemein gesunde Erwachsene täglich ein Multivitamin-/Mineralienpräparat einnehmen, das in der Regel 30 IE synthetisches Vitamin E oder 90 % der RDA enthält.