In den Vereinigten Staaten ist das am weitesten verbreitete Klassifizierungssystem für Kieferfehlstellungen dasjenige des Center for Medicare and Medicaid Services und des National Center for Health Statistics. Diese Klassifikation ist Teil der International Classification of Diseases, Clinical Modification (ICD-CM), einem Taxonomieschema, das auf der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation basiert und das traditionelle Standarddiagnoseinstrument für Epidemiologie, Gesundheitsmanagement und klinische Versorgung ist.2

Die neueste Version der ICD-CM, Version 10,3 teilt Kieferdeformitäten geometrisch in nur drei Gruppen ein: Anomalien der Kiefergröße, Anomalien der Beziehung zwischen Kiefer und Schädelbasis oder nicht spezifiziert (Tabelle 1)4. Diese Deformitäten können jedoch 6 verschiedene geometrische Attribute betreffen: Größe, Position, Orientierung, Form, Symmetrie und Vollständigkeit.

Tabelle 1
Tabelle 1

Sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Lehre haben wir das ICD-CM-Klassifikationssystem als unvollständig und unzusammenhängend empfunden. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten haben wir eine unserer Meinung nach bessere Alternative entwickelt. Sie wird im folgenden Abschnitt vorgestellt.

Geometrische Klassifikation von Kieferdeformitäten

Unser Klassifikationsschema ist in Abbildung 2 als Mind-Map dargestellt.4 Das Schema klassifiziert zunächst Kieferdeformitäten als knöcherne oder dentale Deformitäten. Knöcherne Deformitäten betreffen die Kieferknochen, dentale Deformitäten betreffen die Zähne.

Abbildung 2
Abbildung 2

Die Klassifizierung erkennt die Kieferknochen anhand von 6 geometrischen Attributen: Größe, Position, Ausrichtung, Form, Symmetrie und Vollständigkeit. Kieferdeformitäten werden nach dem Attribut klassifiziert, das sie betreffen.

Größenverformungen treten auf, wenn ein Kiefer entweder zu groß oder zu klein ist. Der Begriff Hyperplasie bezeichnet eine pathologische Vergrößerung, während Hypoplasie das Nichterreichen der Normalgröße bedeutet. Die Mikrognathie ist ein Synonym für die Hypoplasie des Unterkiefers, während die Makrognathie der Hyperplasie des Unterkiefers entspricht. Die Begriffe Makrogenie und Mikrogenie beziehen sich ebenfalls auf die Größe, wobei Makrogenie auf ein großes und Mikrogenie auf ein kleines Kinn hinweist.

Kieferanomalien treten in allen Himmelsrichtungen auf. Prognathismus und Retrognathismus sind Deformitäten, die durch eine anteroposteriore Fehlstellung gekennzeichnet sind. Konventionell wird die anteroposteriore Stellung in Bezug auf die Schädelbasis beurteilt. Ein Prognathismus liegt vor, wenn ein Kiefer zu weit vorne steht, ein Retrognathismus, wenn er zu weit hinten steht. In transversaler Richtung kann ein Kiefer in beide Richtungen aus der Medianebene verschoben sein, eine Deformität, die Laterognathie genannt wird. In vertikaler Richtung kann ein Kiefer zu weit nach unten – übermäßige Abwärtsverschiebung – oder zu weit nach oben – mangelhafte Abwärtsverschiebung – verschoben sein.

Wenn ein Kiefer abnormal ausgerichtet ist, entstehen Malrotationen. Diese Malrotationen werden nach der Achse klassifiziert, um die die abnormale Drehung erfolgt. Wenn ein Kiefer um die transversale Gesichtsachse malrotiert ist, spricht man von einer abnormalen Neigung. Bei einer Malrotation um die anteroposteriore Achse ist der Kiefer abnormal gerollt, ein Zustand, der auch als Verkippung bezeichnet wird. Wenn ein Kiefer um die vertikale Achse malrotiert ist, hat er ein abnormales Gieren.

Form bezieht sich auf die Gestalt, das geometrische Merkmal eines Objekts, das nicht Größe, Position oder Ausrichtung ist 5. Ein Kiefer mit abnormer Form wird als verzerrt bezeichnet.

Das menschliche Gesicht hat eine Spiegelsymmetrie um eine Ebene, den Median. Damit das Gesicht symmetrisch ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein.6 Erstens muss jede der Einheiten, aus denen das Gesicht besteht, symmetrisch sein, eine Bedingung, die als Objektsymmetrie bezeichnet wird. Zweitens muss jede der Einheiten symmetrisch zur Medianebene ausgerichtet sein, eine Bedingung, die als symmetrische Ausrichtung bezeichnet wird. Kiefer können Symmetriedefekte aufweisen, entweder aufgrund von Objektasymmetrie oder aufgrund von Ausrichtungsfehlern. Die Begriffe Unterkieferasymmetrie und Oberkieferasymmetrie beziehen sich auf Anomalien der Objektsymmetrie, während der Begriff asymmetrische Ausrichtung verwendet wird, um eine anormale Ausrichtung zu bezeichnen, die eine Asymmetrie verursacht.

Vollständigkeit bezieht sich auf die Ganzheit des Kiefers. Ein Kiefer kann unvollständig sein, weil sich einer seiner Prozesse nicht vollständig entwickelt hat, z. B. eine Agenesie des Kondylenfortsatzes des Unterkiefers, wie sie bei hemifazialer Mikrosomie auftreten kann. Die Vollständigkeit kann auch ausbleiben, weil einige der embryologischen Prozesse des Kiefers nicht miteinander verschmolzen sind (z. B. Spaltbildung), oder aufgrund eines erworbenen Defekts.

Die verschiedenen Arten von Kieferdeformitäten (Größe, Position, Ausrichtung, Form, Symmetrie und Vollständigkeit) sind häufig miteinander korreliert.6, 7 Beispielsweise kann eine asymmetrische Ausrichtung nicht auftreten, wenn nicht mindestens eine andere Deformität vorhanden ist (z. B. Laterognathie, abnormes Rollen oder abnormes Gieren).

Wie bereits erwähnt, können Kieferdeformitäten auch die Zähne betreffen. Wie die ICD-CM3 berücksichtigt unser Klassifikationsschema nur Zahndeformitäten, die zu einer Malokklusion führen. Eine Malokklusion kann durch die Fehlstellung eines oder mehrerer Zähne in ihrem Zahnbogen oder durch eine fehlende Koordination der oberen und unteren Zahnbögen entstehen (Abbildung 2).

Innerhalb eines Zahnbogens kann eine Fehlstellung die Ausrichtung, die Nivellierung oder den Abstand der Zähne beeinträchtigen. Die Ausrichtung bezieht sich auf die Anordnung der Zähne in einem Bogen. Bei idealer Ausrichtung bilden die Schneidekanten der Schneidezähne und die bukkal-kuspalen Grate der Eckzähne, Prämolaren und Molaren einen Bogen. Fehlstellungen können durch Zahnverschiebungen, Zahnkippungen oder Zahnrotationen entstehen. Bei einer Verschiebung wird ein Zahn körperlich außerhalb des Zahnbogens bewegt. Bei einer Kippung ist ein Zahn abnormal geneigt. Bei Rotationen ist ein Zahn aufgrund einer anormalen Drehung um seine Längsachse falsch ausgerichtet.

Leveling bezieht sich auf die vertikale Anordnung der Zähne. Eine abnorme Nivellierung kann einen einzelnen Zahn oder den gesamten Zahnbogen betreffen. Für diese Beurteilung wird die vertikale Position der Zähne im Verhältnis zu ihrer Okklusionsebene gemessen. Mit anderen Worten, man misst die vertikale Position der unteren Zähne im Verhältnis zur Unterkieferbissebene und die vertikale Position der oberen Zähne im Verhältnis zur Oberkieferbissebene.

Ein einzelner Zahn ist infraokklusiv oder supraokklusiv, wenn er sich unterhalb oder oberhalb der ihm zugeschriebenen Okklusionsebene befindet. Für den gesamten Zahnbogen beurteilt man die Nivellierung des Zahnes anhand der Spee-Kurve. Vom zentralen Schneidezahn bis zum letzten Backenzahn sollten die Höcker aller Zähne entweder eine flache Ebene oder eine gekrümmte, leicht nach oben gewölbte Ebene beschreiben. Eine Zahnfehlstellung kann eine tiefe oder eine umgekehrte Spee-Kurve verursachen. Eine Spee-Kurve ist tief, wenn die Höcker der Zähne eine Ebene mit starker Aufwärtskrümmung beschreiben. Die Kurve ist umgekehrt, wenn die Krümmung der Ebene eine Konkavität nach unten aufweist.

Innerhalb eines Zahnbogens sollten die Zähne normal beieinander stehen, d. h. benachbarte Zähne sollten sich berühren, ohne sich gegenseitig zu bedrängen. Die Abstände sind abnormal, wenn Diasteme vorhanden sind oder wenn der Zahnbogen die Zähne nicht aufnehmen kann. Die erste Bedingung ist ein übermäßiger Zahnabstand, die zweite ist ein Zahnzwang.

Außerdem können Zahnfehlstellungen auftreten, wenn die oberen und unteren Zahnbögen nicht harmonieren. Für eine normale Okklusion reicht es nicht aus, dass die oberen und unteren Zähne normal in einem Bogen angeordnet sind. Die oberen und unteren Zahnbögen müssen auch aufeinander abgestimmt sein: in Position, Form und Zahngröße.

Diskordante Zahnbogenpositionen verursachen Zahnfehlstellungen (Malokklusion). Dieser Mangel an Konkordanz kann in allen Kardinalebenen auftreten: anteroposterior, vertikal und transversal.

Wir beurteilen die anteroposterioren okklusalen Beziehungen an drei verschiedenen Stellen. Diese sind: erster Molar, Eckzahn und zentrale Schneidezähne. Bei dieser Beurteilung ist der Bezugsrahmen das obere Gebiss, d.h. der Untersucher beurteilt die anteroposteriore Position der unteren Zähne im Verhältnis zu hypothetischen statischen oberen Zähnen.

Die Backenzahnbeziehung nach Angle bewertet die Position der bukkalen Furche des unteren ersten Backenzahns im Verhältnis zum mesiobukkalen Höcker des oberen.8 Bei einer idealen Backenzahnbeziehung der Klasse I stimmen diese Orientierungspunkte überein. Bei einer Klasse-II-Beziehung liegt die untere Molarenfurche hinter dem oberen Höcker, bei einer Klasse-III-Beziehung liegt sie davor. Eine ähnliche Beurteilung erfolgt in der Eckzahnregion. Bei einem Eckzahnverhältnis der Klasse I fällt die untere Eckzahnfurche mit dem Höcker des oberen Eckzahns zusammen. Bei einem Klasse-II-Verhältnis liegt die Einbuchtung hinter dem oberen Eckzahnhöcker, bei einem Klasse-III-Verhältnis liegt sie davor. Im Inzisalbereich schließlich messen wir den Überbiss. Der Überbiss ist der horizontale Abstand zwischen den Inzisalkanten der oberen und unteren mittleren Schneidezähne. Wenn die untere Inzisalkante mit der oberen zusammenfällt, ist der Überbiss gleich Null. Befindet er sich dahinter, hat die Messung einen positiven Wert, davor ist sie negativ. Der ideale Überbiss beträgt +2 mm.

Auf der Grundlage dieser Bewertungen klassifiziert man die Okklusion in Neutrokklusion, Distokklusion oder Mesiookklusion. Bei einer Neutrokklusion sind die Molaren- und Eckzahnbeziehungen Klasse I und der Überbiss ist normal. Bei einer Distokklusion sind die Molaren- und Eckzahnverhältnisse Klasse II und der Überbiss ist entweder größer als normal (Abteilung 1) oder normal (Abteilung 2). Bei Mesiocclusion sind die Molaren- und Eckzahnverhältnisse Klasse III und der Überbiss ist kleiner als normal, in der Regel negativ.

Positionsdiskordanz zwischen den oberen und unteren Zahnbögen tritt auch in vertikaler Richtung auf. Fehlt die vertikale Überlappung zwischen den oberen und unteren Zähnen, entsteht ein offener Biss. Er kann sowohl anterior als auch posterior sein.

Eine übermäßige vertikale Überlappung der Frontzähne führt zu einem Tiefbiss. Eine übermäßige vertikale Überlappung der Seitenzähne führt zu einem Seitenzahnkollaps. Letzteres kann nur auftreten, wenn viele Seitenzähne fehlen und die verbleibenden Zähne keine Gegenbisslage haben oder wenn ein vollständiger Kreuzbiss der Seitenzähne vorliegt.

Schließlich kann eine Diskordanz zwischen den Ober- und Unterkieferzahnbögen auch in der transversalen Dimension auftreten. Normalerweise liegen die bukkalen Höcker der Oberkieferseitenzähne lateral zu den bukkalen Höckern der Unterkieferzähne. Wenn das Gegenteil der Fall ist, spricht man von einem Kreuzbiss. In extremen Fällen können alle unteren Zähne innerhalb der oberen liegen, was als Brodie-Biss bekannt ist. Umgekehrt können die oberen Zähne innerhalb der unteren sein, ein Zustand, der als Scherenbiss bekannt ist.

Wie bereits erwähnt, können der obere und der untere Zahnbogen anormal zusammenbeißen, weil sie unterschiedliche Formen haben. Zum Beispiel passt ein U-förmiger Unterkiefer nicht zu einem V-förmigen Oberkiefer. Die fehlende Formkongruenz zwischen den oberen und unteren Zähnen führt zu einer Bogenform-Diskordanz.

Um eine gute Interdigitation in der Klasse-I-Okklusion zu erreichen, muss die Breite (mesio-distale Größe) der unteren Zähne proportional zur Breite der oberen sein.9 Wenn diese Proportionalität fehlt, haben die Zahnbögen eine Zahngrößendiskrepanz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.