Bereits im zweiten Jahrhundert trug dieser Traktat, der in seiner Ermahnung zur treuen Pilgerschaft unter der Führung Christi von großer rhetorischer Kraft und Stärke ist, den Titel „An die Hebräer“. Man nahm an, dass er an die Judenchristen gerichtet war. In der Regel wurde der Hebräerbrief in griechischen Handschriften der Briefsammlung des Paulus beigefügt. Obwohl kein Verfasser genannt wird (denn es gibt keine Adresse), deutet ein Verweis auf Timotheus (Hebr 13,23) auf Verbindungen zum Kreis des Paulus und seiner Mitarbeiter hin. Doch die genaue Zielgruppe, der Verfasser und sogar die Frage, ob es sich bei Hebräer um einen Brief handelt, sind seit langem umstritten.
Der Verfasser sah die Adressaten in Gefahr, vom christlichen Glauben abzufallen. Diese Gefahr war nicht auf eine Verfolgung durch Außenstehende zurückzuführen, sondern auf eine Überdrüssigkeit gegenüber den Anforderungen des christlichen Lebens und eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Berufung (Hebr 2,1; 4,14; 6,1-12; 10,23-32). Das Hauptthema des Autors, das Priestertum und das Opfer Jesu (Hebr 3-10), wird nicht um seiner selbst willen entwickelt, sondern als Mittel, um ihren verlorenen Eifer wiederherzustellen und sie in ihrem Glauben zu stärken. Ein weiteres wichtiges Thema des Briefes ist die Pilgerreise des Gottesvolkes zum himmlischen Jerusalem (11,10; 12,1-3, 18-29; 13,14). Dieses Thema steht in engem Zusammenhang mit dem Dienst Jesu im himmlischen Heiligtum (Hebr 9,11-10,22).
Der Autor nennt dieses Werk eine „Botschaft der Ermutigung“ (Hebr 13,22), eine Bezeichnung, die einer Synagogenpredigt in Apostelgeschichte 13,15 gegeben wird. Der Hebräerbrief ist also wahrscheinlich eine schriftliche Predigt, die der Autor mit einem Brief beendet hat (Hebr 13,22-25). Der Autor beginnt mit einer Erinnerung an die Präexistenz, die Inkarnation und die Erhöhung Jesu (Hebr 1,3), die ihn zum Höhepunkt des Wortes Gottes an die Menschheit gemacht haben (Hebr 1,1-3). Er geht auf die Würde der Person Christi ein, die den Engeln überlegen ist (Hebr 1,4-2,2). Christus ist das letzte Heilswort Gottes, das (in Verbindung mit anerkannten Zeugen seiner Lehre: vgl. Hebr 2,3-4) nicht nur durch das Wort, sondern durch sein Leiden in der ihm und allen anderen gemeinsamen Menschlichkeit mitgeteilt wird (Hebr 2,5-16). Dieses Heilsgeschehen ging über das Muster hinaus, das Mose, der treue Prophet des Wortes Gottes, kannte, denn Jesus hat als Hoherpriester die Sünde gesühnt und war Gott mit der Treue seines eigenen Sohnes treu (Hebr 2,17-3,6).
Wie die Untreue des Volkes die Bemühungen des Mose um seine Rettung vereitelte, so kann die Untreue eines jeden Christen Gottes Plan in Christus vereiteln (3,6-4,13). Die Christen sollen bedenken, dass es ihr Menschsein ist, das Jesus auf sich genommen hat, mit all seinen Fehlern, außer der Sündhaftigkeit, und dass er die Last davon bis zum Tod aus Gehorsam gegenüber Gott getragen hat. Gott hat dieses Werk seines Sohnes zur Ursache des Heils für alle erklärt (Hebr 4,14-5,10). Obwohl die Christen diese grundlegende Lehre anerkennen, können sie ihrer und ihrer Auswirkungen überdrüssig werden und benötigen daher andere Überlegungen, um ihren Glauben zu beleben (5,11-6,20).
Daher stellt der Autor den Lesern das ewige Priestertum Christi zum Nachdenken vor (Hebr 7,1-28), ein Priestertum, das die Verheißung des Alten Testaments erfüllt (Hebr 8,1-13). Es zeigt auch die Bedeutung, die Gott letztlich mit den Opfern des Alten Testaments beabsichtigt hat (Hebr 9,1-28): Sie weisen auf das einzigartige Opfer Christi hin, das allein die Vergebung der Sünden bewirkt (Hebr 10,1-18). Die Glaubensprüfung, die die Leser durchmachen, sollte sich durch die Betrachtung des Dienstes Christi im himmlischen Heiligtum und seiner ständigen Fürsprache dort für sie lösen (Hebr 7,25; 8,1-13). Sie sollten auch gestärkt werden durch die Gewißheit seiner vorherbestimmten Parusie und durch die Früchte des Glaubens, die sie bereits genossen haben (Hebr 10,19-39).
Es liegt in der Natur des Glaubens, die Wirklichkeit dessen zu erkennen, was noch nicht gesehen wird und Gegenstand der Hoffnung ist, und die Heiligen des Alten Testaments geben ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Glauben (Hebr 11,1-40). Die Beharrlichkeit, zu der der Autor die Leser ermahnt, zeigt sich im irdischen Leben Jesu. Trotz der Bedrängnisse seines Dienstes und der höchsten Prüfung seines Leidens und Sterbens blieb er im Vertrauen auf den Triumph, den Gott ihm bringen würde (Hebr 12,1-3). Die Schwierigkeiten des menschlichen Lebens haben einen Sinn, wenn sie als Gottes Zucht angenommen werden (Hebr 12,4-13), und wenn die Christen in der Treue zu dem Wort, an das sie geglaubt haben, verharren, haben sie die Gewissheit, für immer das unerschütterliche Reich Gottes zu besitzen (Hebr 12,14-29).
Der Brief schließt mit konkreten moralischen Geboten (Hebr 13,1-17), in deren Verlauf der Autor noch einmal sein zentrales Thema des Opfers Jesu und den Mut, der nötig ist, um sich ihm im Glauben anzuschließen, in Erinnerung ruft (Hebr 13,9-16).
Bereits Ende des zweiten Jahrhunderts nahm die Kirche von Alexandria in Ägypten den Hebräerbrief als einen Brief des Paulus an, und das wurde die im Osten allgemein vertretene Ansicht. Im Westen wurde die paulinische Autorschaft bis ins vierte Jahrhundert hinein bestritten, dann aber akzeptiert. Jahrhundert wurden erneut Zweifel an dieser Position laut, und der moderne Konsens lautet, dass der Brief nicht von Paulus geschrieben wurde. Über die anderen vorgeschlagenen Verfasser, z. B. Barnabas, Apollos oder Prisc(ill)a und Aquila, besteht jedoch keine weitgehende Einigkeit. Das Dokument selbst enthält keine Aussage über seinen Verfasser.
Zu den Gründen, warum die paulinische Autorschaft verworfen wurde, gehören die großen Unterschiede in Wortschatz und Stil zwischen dem Hebräerbrief und den Paulusbriefen, der Wechsel von lehrhafter Belehrung und moralischer Ermahnung, die unterschiedliche Art, das Alte Testament zu zitieren, und die Ähnlichkeit zwischen dem Denken des Hebräerbriefs und dem des alexandrinischen Judentums. Das Griechisch des Briefes ist in vielerlei Hinsicht das beste des Neuen Testaments.
Da der Brief des Clemens von Rom an die Korinther, der um 96 n. Chr. geschrieben wurde, höchstwahrscheinlich den Hebräerbrief zitiert, ist die obere Grenze für das Abfassungsdatum ziemlich sicher. Die Verweise auf den alttestamentlichen Opferkult im Präsens des Briefes zeigen zwar nicht unbedingt, dass der Tempelkult noch in Gebrauch war, aber viele ältere Kommentatoren und eine wachsende Zahl neuerer Kommentatoren vertreten die Ansicht, dass dies der Fall war und dass der Autor vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. schrieb. In diesem Fall lässt sich die Argumentation des Briefes eher so erklären, dass sie sich an Judenchristen richtet als an Christen heidnischer Herkunft, und die Verfolgungen, die sie in der Vergangenheit erlitten haben (vgl. Hebr 10,32-34), könnten mit den Unruhen zusammenhängen, die der Vertreibung der Juden aus Rom im Jahr 49 n. Chr. unter Kaiser Claudius vorausgingen. Diese wurden wahrscheinlich durch Streitigkeiten zwischen Juden, die Jesus als Messias akzeptierten, und solchen, die dies nicht taten, verursacht.
Die Hauptabschnitte des Hebräerbriefs sind die folgenden:
- Einleitung (1:1-4)
- Der Sohn, höher als die Engel (1:5-2:18)
- Jesus, der treue und barmherzige Hohepriester (3:1-5:10)
- Jesus‘ ewiges Priestertum und ewiges Opfer (5:11-10:39)
- Beispiele, Züchtigung, Ungehorsam (11:1-12:29)
- Schlussmahnung, Segen, Gruß (13:1-25)